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Wohl einer der berühmtesten Texte der antiken Philosophie ist Platons Höhlengleichnis. Platon beschreibt die Welt darin mit folgendem Bild: Die Menschen sitzen gefesselt in einer Höhle. Hinter ihrem Rücken brennt ein Feuer, das sie nicht sehen können. Sehen können sie nur die Schatten, die durch das Feuer an die Wand geworfen werden. Da sie gefesselt sind und weder das Feuer noch einander je gesehen haben, halten sie Schatten an der Wand für die Wirklichkeit. Allein der Philosoph schafft es, sich zu befreien, zu erkennen, dass die Schatten nicht die Realität sind, die Höhle zu verlassen und schließlich in das das Licht der gleißend hellen Sonne zu blicken. Als er seinen Mitmenschen in der Höhle aber von seiner Erkenntnis berichtet, erklären diese ihn für verrückt und lachen ihn aus.

In der ersten Folge der Querdenker FAQ habe ich bereits erwähnt, dass Esoterik in der Religionsforschung häufig als eine neoplantonische Strömung verstanden wird, also als eine Denktradition, die aus der Interpretation von Platons Texten entstanden ist. In Verbindung mit der spirituellen Evolution kann das Höhlengleichnis so gelesen werden: Nur eine durch beständige Reinkarnation weiterentwickelte geistige Elite kann die Wahrheit über die Welt erkennen. Tatsächlich kommt daher auch der Name Esoterik. Bereits bei Platon sprach man von einer esoterischen Lehre, die im Gegensatz zur exoterischen Lehre, die jeder verstehen konnte, nur für einige Auserwählte verständlich war. Im 19. Jahrhundert wurde Esoterik dann als eine Lehre bezeichnet, die nur von den spirituell am weitesten entwickelten Menschen begriffen werden konnte.
Damit verbindet die Esoterik zwei widersprüchliche Vorstellungen, einerseits, dass jeder Mensch durch sein Ich, seine Seele, seinen inneren göttlichen Funken, die Möglichkeit zur Erleuchtung hat und andererseits, dass nur eine kleiner, also esoterischer Kreis von Auserwählten die Fähigkeit hat, die Wahrheit zu verstehen. Innerhalb esoterischer Gesellschaften hat dies immer wieder zu Streit und Schismen geführt, etwa wenn Schüler eines Gurus plötzlich ihre eigene Erleuchtung zu predigen begannen. Im esoterischen System kann alles von jedem behauptet und alles von jedem abgelehnt werden, immer mit dem Hinweis, der andere habe eben eine unterentwickelte Seele. Die esoterische Lehre befindet sich damit auch in der paradoxen Situation, einerseits alle Menschen überzeugen und andererseits den Status einer kleinen Gruppe von Eingeweihten nicht aufgeben zu wollen. Immer will man Mainstream sein, immer kämpft man gegen den Mainstream. Helena Blavatskys theosophischer Bestseller, Die Geheimlehre von 1880, war dann ja auch ein Geheimnis, das in zahlreichen Bücherschränken zu finden war.
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Auch Verschwörungstheorien, mittlerweile spricht man eher von Verschwörungserzählungen, denn um Theorien im eigentlichen Sinne handelt es sich dabei ja nicht, verstehen sich selbst als eine solche Geheimlehre.
Dabei gilt, je absurder eine Verschwörungserzählung ist, je lauter der Mainstream lacht, umso mehr fühlen sich diejenigen, die da erzählen, als Teil einer geistig überlegenen Elite. Psychologen sehen darin einen für Verschwörungserzählungen typischen Mechanismus der Selbstaufwertung.
Wenn die Vorstellung, dass der Geist stärker ist als der Körper, der kleinste gemeinsame Nenner der in diesem Podcast behandelten Gruppen ist, dann sind Verschwörungserzählungen ihre Potenz. In den Verschwörungserzählungen finden sich alle Bilder, Gegner und Vorstellungen dieser Gruppen. Esoterische Literatur verwenden sie wie einen Steinbruch. Die einzelnen Teile setzen sie zur individuellen großen Weltverschwörungen neu zusammen.
Inhaltlich geht es bei vielen Verschwörungserzählungen weiterhin um eine Angst vor dem Materialismus, vor der grausamen Medizin, vor allem der Pharmaindustrie, vor Tierquälerei, vor dem Imperialismus. Auf der Suche nach einem Schuldigen wird wie schon in den 20er und 30er Jahren auf eine Elite gezeigt, die für alle Schäden der Moderne verantwortlich gemacht wird.
Der vegane Koch Attila Hiltmann verbindet Naziideologie, Schauergeschichten über das Impfen und Tierversuche mit der Vermarktung eines veganen Lifestyles und Kritik an einer geheimen Elite. Beständig warnt er vor der neuen Weltordnung, gleichzeitig aber setzt er seine Alltagssorgen mit dem Leid, das der Imperialismus angerichtet hat, gleich. So stellt er etwa das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf eine Stufe mit der Sklaverei, die Corona-Maßnahmen auf eine Stufe mit Völkermord.
Der Sänger Xavier Naidoo berichtet dagegen im Internet unter Tränen von Folterkellern, in denen Kindern das Blut abgezapft werde, das eine böse Eilte angeblich dazu verwende, um sich zu berauschen und ewige Jugend zu erlangen. Seine Schilderungen ähneln denen der Ärztin und Esoterikern Anna Bonus Kingsford aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von den Tierversuchen an der medizinischen Fakultät von Paris. Aber bei Naidoo ist nicht nur der gefühlskalte Arzt der Feind, sondern hinter all dem steckt eine böse Superelite, die ihre materialistischen Freuden über alles stellt und für den Kick oder für Schönheit über Leichen, sogar Kinderleichen, geht. Naidoo steht auch der so genannten Reichsbürgerbewegung nahe, deren Anhänger sich ebenfalls immer wieder den Querdenkerdemos anschließen. Diese vertreten häufig Theorien des Nazi-Esoterikers Jan Udo Holey. Holey bezieht sich dabei vor allem auf Texte der Theosophischen Gesellschaft. Er glaubt an die spirituelle und technische Überlegenheit der Nazis und der „arischen Rasse“, die mitsamt ihrer Reichsflugscheibe in einem unterirdischen Höhlensystem auf das Voranschreiten der spirituellen Evolution warten. Adolf Hitler und der Graf von Saint Germain sitzen laut Holey gemeinsam in Tibet in einer Höhle und meditieren.
Und auch das Feindbild der US-amerikanischen QAnon-Bewegung, die ausgerechnet in Donald Trump ihren Retter sieht, ist eine radikal materialistische Elite, die ihre Stellung allein dazu nutzt, jede ihrer perversen Gelüsten nachzukommen, egal ob es sich dabei um Drogen, Sex mit Kindern oder sadistische Abenteuer handelt. In ihrem Versuch, die gutartige weiße Bevölkerung auszulöschen, stärke die radikal-liberale Elite die „minderwertigen Rassen“. Vor allem Strömungen aus den USA mischen sich dann oft noch mit apokalyptischen Vorstellungen. Die Elite fröne dem Satanismus und das Jüngste Gericht stehe bevor. Aber auch QAnon wirbt zunächst gezielt bei Menschen, die an alternative Medizin glauben, um Anhänger. Nun passt das vielleicht alles nicht mehr richtig zusammen. Aber das ist eben das besondere an Verschwörungserzählungen. Das muss es auch nicht. Mehr ist hier mehr. Alles was der Vernunft widerspricht, wird als Beleg für die Überlegenheit derjenigen angesehen, die sich in diesem absurden Labyrinth aus Widersprüchen irgendwie zurechtzufinden scheinen.
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Die Aufklärung war von Beginn an ein zweischneidiges Schwert. Immanuel Kant rief den Menschen dazu auf, sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Das Versprechen lautete, dass der freie Mensch sein geistiges Potential erkennen und Krankheit, Hunger und Leid besiegen werde. Tatsächlich führte dies zur Entstehung der modernen Wissenschaft. Durch verbesserte Hygienebedingungen, verbesserte medizinische Verfahren und eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln stieg die Lebenserwartung. Die Wissenschaft eröffnete zudem bislang unvorstellbare technische Möglichkeiten. Aber zugleich brachten diese Möglichkeiten auch bisher unvorstellbare Schrecken mit sich: Massenvernichtungswaffen, chemische Gifte und die Atombombe etwa. Und auch mit der Freiheit war es nicht so weit her wie versprochen. Nicht allzu lang, nachdem sich die der Aufklärung verpflichteten Revolutionäre Frankreichs auf das Credo Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit geeinigt hatten, schlugen sie die Haitianische Revolution der Sklaven in der französischen Kolonie auf brutale Weise nieder. Wachstum und Fortschritt waren erkauft mit der Ausbeutung anderer Länder und auch der eignen Bevölkerung.
Riesenkonzerne bestimmen heute unser Arbeits- und Konsumverhalten und haben eine neue Form der Unmündigkeit hervorgebracht. Das Ideal der Selbstbestimmung wird zwar hochgehalten, aber tatsächlich ist unser modernes Leben von Zwängen geprägt. Der Ruf nach Eigenverantwortung trifft auf ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Umständen.
Diese Schizophrenie der Aufklärung zwischen Fortschrittsglauben und Fortschrittspessimismus zieht sich durch die Geschichte aller in diesem Podcast behandelten Gruppen, ob Sozialisten, Vegetarier, Impfgegner oder Rechtsextremisten – sie alle glauben an den Fortschritt und zweifeln zugleich an ihm.
In den Medien wird die esoterische Einstellung vieler Querdenker oft als ein Rückfall ins Mittelalter beschrieben, als ein altertümlicher Aberglaube, der doch in unserer modernen Welt überwunden sein sollte. Aber diese Einschätzung greift zu kurz und wird dem Phänomen nicht gerecht. Das esoterische Denken ist eine Folge unserer modernen Welt und wird nicht verschwinden, indem man sie als Anachronismus abstempelt. Abhilfe gegen die dunklen Seiten dieses Denkens, gegen ihren Hang zu Verschwörungserzählungen und zur Suche nach einem Sündenbock, kann, davon bin ich überzeugt, nur ein offener und demokratischer Dialog leisten. Je offener wir reden, diskutieren und auch kritisieren, umso mehr schwindet die Attraktivität des Verschwörungsdenkens und umso mehr Grund gibt es, auf den Fortschritt zu vertrauen.