Mit der Impfung gegen Covid-19 in greifbarer Nähe sind auch die Impfgegner wieder ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, Menschen also, die das Impfen grundsätzlich ablehnen. Aber warum tun sie das? In der letzten Folge haben wir Argumente kennengelernt, die esoterisch denkende Menschen dazu veranlasst haben, sich vegetarisch zu ernähren und die biologische Landwirtschaft aufzubauen. Ähnliche Argumente wurden immer wieder auch von Impfgegnern angeführt.
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Tatsächlich ist die Bewegung der Impfgegner genauso alt wie das Impfen selbst. Im 19. Jahrhundert gab es allerdings auch gerechtfertigte wissenschaftliche Kritik an der Impfpraxis.
Diese formulierte einmal mehr der Esoteriker, Sozialist und Befürworter eines vegetarischen Lebensstils, Alfred Russel Wallace. Russel Wallace schrieb im Jahr 1898 das Pamphlet „Vaccination a delusion“, zu deutsch „Impfen ein Wahn“, in welchem er sich gegen die Pocken-Impfpflicht aussprach. Der Untertitel der Streitschrift lautete, „Der strafrechtliche Zwang, ein Verbrechen“. Die Pockenimpfung war die erste Impfung der modernen Medizin. Sie wurde bereits im Jahr 1796 vom englischen Arzt Edward Jenner entwickelt und 1853 wurde in England die Pockenimpfpflicht bei Kleinkindern eingeführt. Allerdings waren die Impfungen zu dieser Zeit alles andere als sicher, vor allem in der Unterschicht, wo man sich den teuren Impfstoff nicht leisten konnte. Dort impfte man nicht unbedingt mit dem aus der Lymph von pockeninfizierten Kühen gewonnenen Impfstoff, sondern mit dem Schorf eines pockeninfizierten Menschen und übertrug damit häufig nicht nur die Antikörper gegen die Pocken sondern auch allerlei andere gefährliche Krankheiten, wie etwa Syphilis oder Wundrose. Manchmal war auch die Dosis zu hoch und die Kinder erkrankten an Pocken anstatt immun zu werden. Erst 1898, also im gleichen Jahr in dem Russel Wallace sein Pamphlet publizierte und 45 Jahre nach der Einführung der Impfpflicht, wurde die Impfung mit Schorf in England verboten. Davor hatte sie tatsächlich großen Schaden angerichtet und so gab es auch unter Ärztinnen und Ärzten zahlreiche Impfgegner.

Die Statistiken zeigten zwar, dass die Sterblichkeit bei geimpften Kindern sehr viel geringer war als bei ungeimpften, aber Russel Wallace hielt den Impfstoff für wirkungslos und die Statistiken für nicht aussagekräftig. Denn trotz der Impfpflicht wurden reiche Kinder, die auch ohne Impfung eine höhere Lebenserwartung hatten, sehr viel eher geimpft als arme, was ja auch nicht verwunderlich ist, wenn man die oft harschen und gefährlichen Impfmethoden in Betracht zieht, die für die Armen zur Verfügung standen. Für Russel Wallace zeigte die Statistik damit nur, dass es für arme Kinder wahrscheinlicher war, an Pocken zu sterben, als für reiche. Dass die Kindersterblichkeit insgesamt zurückging, führte Russel Wallace, der selbst übrigens auch geimpft war, auf die verbesserten sozialen Umstände der Arbeiter zurück. Er war der Ansicht, dass es sehr viel sinnvoller sei, sich um die allgemeinen Lebensbedingungen der Unterschicht zu kümmern, als sie zu impfen. Mit verbesserten Lebensumständen, davon war er überzeugt, würden Krankheiten sowieso verschwinden. Der Spiritist Russel Wallace vertrat eine ganzheitliche Medizin. Er glaubte, dass Krankheit immer auch eine Folge eines vernachlässigten Geistes sei und dass allgemeine Gesundheit nur mit sozialer Gerechtigkeit und Bildung erreicht werden könne.
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Ein sicherer Impfstoff gegen Pocken konnte nur aus Kühen gewonnen werden. Die große Ambivalenz der wissenschaftlichen Medizin zeigte sich im 19. Jahrhundert besonders im Umgang mit Tieren. Tierversuche waren nötig, um die neue Verfahren und Wirkstoffe zu entwickeln, die der Aufschwung der Wissenschaft mit sich gebracht hatte. Und oft war man hier nicht zimperlich. Es war deshalb ein großes Anliegen vieler Menschen, das Leid der Tiere zu mindern, vor allem auch der alternativ-religiösen Menschen, die der Überzeugung waren, dass auch Tiere eine Seele besitzen, die sich in ihrer Essenz nicht von der menschlichen Seele unterscheidet. So hatten sie ja schon in der Debatte um den Vegetarismus argumentiert. Deshalb traten Anhänger von Vegetariervereinen häufig auch Verbänden so genannter Vivisektionsgegner bei. Vivisektion bedeutet wörtlich das Auseinandernehmen von etwas Lebendigem, aber zumeist waren damit Tierversuche gemeint. Eine solche Aktivistin für beide Anliegen war Anna Bonus Kingsford. Kingsford war eine der ersten Engländerinnen, die Medizin studierten. Das dies für Frauen in England noch nicht möglich war, studierte Kingsford in Paris. Sie schloss ihr Studium 1880 mit einer Doktorarbeit über den Vegetarismus ab. Kingsford hatte sich schon immer für den Tierschutz eingesetzt und war bereits seit den 1870er Jahren Vegetarierin. Später wurde sie auch zur Vizepräsidentin der englischen vegetarischen Gesellschaft gewählt. Daneben war Kingsford auch esoterisch interessiert und Mitglied in zahlreichen esoterischen Verbänden. Die an der Universität in Paris durchgeführten Tierversuche machten Kingsford das Studium zur Qual. Das Winseln der unter den Experimenten leidenden Hunde beschrieb sie als ihre persönliche Hölle. Kingsfords Schilderungen ihres Studiums waren vermutlich auch Vorbild für eine Erzählung, die im Jahr 1889 mit dem Titel „The Viviscectors“ in der esoterischen Zeitschrift Lucifer erschien. Darin geht es um französische Wissenschaftler, die, wie es wörtlich heißt, nicht mehr Probleme damit haben einen Hund auseinanderzuschneiden, wie einen Apfel.

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Auch in Deutschland schlug sich diese Kritik am Tierversuch in esoterischen Kreisen nieder. Der Esoteriker und Münchner Akademiemaler Gabriel von Max zum Beispiel schuf im Jahr 1883 ein Gemälde mit dem Titel „Die Vivisektion“, das heute zur Sammlung des Münchner Lenbachhauses gehört. Darauf zu sehen ist ein angsterfüllter kleiner Hund, der von der Göttin der Gerechtigkeit, Justitia, vor einem Wissenschaftler mit Sezierbesteck gerettet wird. Die Justitia hält in ihrer anderen Hand eine Waage. In einer der Waagschalen liegt ein Gehirn in der anderen ein kleines Rauchfass. Das Gehirn wiegt dabei weniger als der Rauch. Das kann doppelt gelesen werden: Zum einen natürlich, dass das Hirn des grausamen Vivisektors nichts wiegt, er also dumm ist. Zum anderen stand das Hirn für die materialistische Wissenschaft, während der Rauch, wie Weihrauch, als Symbol für die Seele und das Geistige angesehen wurde. Die Seele, auch die eine Hündchens, wog für Gabriel von Max also schwerer, als die scheinbare Vernunft der Wissenschaft.

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Tierversuche waren für die Herstellung von sicheren Impfstoffen unabdingbar. Darin sah auch Annie Besant, eine der bedeutendsten Esoterikerinnen des 20. Jahrhunderts, das größte Problem der Impfungen. In ihrer Zeit als Studentin und Sozialistin in London war sie noch keine Gegnerin der Tierversuche gewesen. Allerdings hatte sie im Gegensatz zu Kingsford ihre Vorlesungen in Tierphysiologie auch nur an toten Tieren absolvieren müssen. Tierversuche waren in England durch den Cruelity to Animals Act, dem Gesetz gegen Grausamkeit gegen Tiere aus dem Jahr 1876 gesetzlich stark eingeschränkt worden. Als Besant begann, sich der Esoterik zu widmen, änderte sie ihre Meinung zu diesem Thema allerdings.

Dem Impfen war Besant schon immer kritisch gegenübergestanden, doch kamen neben den sozialen Aspekten, die gegen das Impfen sprachen, neben solchen also, wie sie auch Alfred Russel Wallace und viele Ärzte vertraten, nun auch spirituelle hinzu. Der menschliche Körper habe sich unter Schmerzen und Leid in der Evolution entwickelt, schrieb Besant 1907. Nun stehe er auf einer höheren evolutionären Stufe als das Tier. Der menschliche Körper entspreche dem spirituell-evolutionären Entwicklungsstand des menschlichen Geistes. Diesem Körper das Serum eines gequälten Tieres einzuflößen, sei ein Rückfall in die Barbarei, schrieb sie. Das Impfen werde diese edleren Körper zerstören, die das Erbe der menschlichen Zivilisation seien. Wie schon beim Vegetarismus, griff auch hier das Argument vom Körper als Tempel und Sitz des Geistes, der reingehalten werden müsse. War schon der Verzehr von Fleisch problematisch, so musste das Injizieren von tierischen Antikörpern, noch dazu solchen, die mit Hilfe von Tierversuchen und durch infizierte Tiere gewonnen wurden, als schlimme Verunreinigung des Körpers angesehen werden.
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Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, der Waldorf-Pädagogik und der Demeter-Landwirtschaft, argumentierte im Jahr 1924 etwas anders und zwar so, wie es auch für den Umgang mit der Corona-Pandemie bedeutsam ist. Steiner schrieb, dass es durchaus richtig sei, dass die Pockenerkrankung mit einer außerordentlich hohen Ansteckungsgefahr einhergehe. Allerdings bestritt er, dass es sich bei der Ansteckung um einer physische Übertragung der Krankheit handle. Aber was für eine Art der Übertragung war es dann?
Krankheiten sind dem Denken zahlreicher esoterischer Gruppen nach immer geistiger Natur, vom Rückenleiden über die Pocken bis hin zum Krebsgeschwür.
Steiner schrieb, er habe mit zweiundzwanzig einmal einen Schüler unterrichtet, während dessen an Pocken erkrankte Mutter im gleichen Raum lag. Er habe sich nicht angesteckt, da er sich nicht vor einer Ansteckung gefürchtet habe. Er habe die Kranke nicht als ein Risiko, sondern als ein Objekt wahrgenommen, von dem die Psyche nicht affiziert wird, wie etwa bei einem Stein oder Strauch. Durch diesen Schutz seiner Psyche habe er auch die Ansteckung ausgeschlossen. Für ihn sei das eine interessante Erfahrung gewesen. Diese Erfahrung, so glaubte Steiner, müsse jeder Mensch machen. Die Impfung aber unterbinde die Möglichkeit der Seele, zu lernen, dass sie die Krankheit besiegen könne, wenn sie nur aufhöre, sich vor Ansteckung zu fürchten. Der Geist bleibe damit hinter seinen Möglichkeiten zurück und gefangen in der materiellen Welt. Die Kräfte des Geistes zum Schutz und zur Selbstheilung würden durch die Impfung behindert, ebenso, wie die geistige Evolution der Menschheit insgesamt.
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Die Bewegung der Impfgegner hat also eine lange Tradition. Traditionell war sie eng verknüpft mit der Vegetarier-Bewegung und mit dem Sozialismus. Die Impfpraxis ist zwar inzwischen sicher geworden und ihre Wirksamkeit ist belegt, doch das Misstrauen dem Impfen gegenüber hat sich im kulturellen Gedächtnis festgesetzt. Auch deshalb, weil der Umgang mit den Menschen bei Impfaktionen für die so genannte „Dritte Welt“ im 20. Jahrhundert häufig nicht besser war, als der mit der eigenen Bevölkerung im 19. Jahrhundert.
Für ein esoterisches Denken, das den Geist über den Körper stellt, muss das Impfen ganz grundsätzlich als problematisch angesehen werden. Und nicht nur das: Wer die materielle Welt schließlich völlig ablehnt, für den ist auch die Vernunft kein zuverlässiger Partner mehr. Aber dazu mehr in der nächsten Folge.
Quellen:
Thomas P. Weber. Alfred Russel Wallace and the Antivaccination Movement in Victorian England. Emerging Infectious Diseases, 16(4):664-8, April 2010. Online zugänglich auf https://www.researchgate.net/publication/42638272_Alfred_Russel_Wallace_and_the_Antivaccination_Movement_in_Victorian_England.
Anna Kingsford. The Uselessness of Vivisection. The Nineteenth Century, Februar 1882,171-183. Online zugänglich auf:http://www.humanitarismo.com.br/annakingsford/english/Works_by_Anna_Kingsford_and_Maitland/Texts/OAKM-I-UselessVivisec-web.htm.
G.R.S. Mead. The Vivisectors. A Story of Black Magic Founded on Fact. Lucifer 5, Nr. 28 (Dezember 1889), 304.
Annie Besant. The Value of Theosophy in the World of Thought. In: London Lectures of 1907. London/Benares: The Theosophical Publishing Society, 1909, 157-179.
Rudolf Steiner. Besprechungen mit praktizierenden Ärzten. Vortrag vom 22. April 1924. In: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1989, 285-301.
Bildquellen:
Wikisource contributors, „Seite:Vaccination a delusion.djvu/7,“ Wikisource , https://en.wikisource.org/w/index.php?title=Page:Vaccination_a_delusion.djvu/7&oldid=9052967 (Zugriff vom 29. Dezember 2020).
Gabriel von Max, Der Vivisektor, 1883. Leinwand, 101 cm x 167 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung
https://www.lenbachhaus.de/entdecken/sammlung-online/detail/der-vivisektor-30036186.