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Bereits im Mai titelte die Zeitung Die Welt: „Veganer und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen“. In Fenstern von Bioläden hingen im Frühjahr immer wieder Schilder, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richteten, und der vegane Koch Attila Hiltmann wurde für manche zur Gallionsfigur des Protests. Auch die TAZ brachte im Mai 2020 einen Artikel mit dem Titel „Corona und Verschwörungstheorien. Macht Bio wirr?“ Warum sind Bioläden und Internetgruppen von Veganern nicht nur Treffpunkte für Menschen aus verschiedenen politischen Lagern, sondern auch für Corona-Leugner?
Rechtsextremismus und Veganismus entstammten der gleichen Ursuppe, hieß im Artikel in der TAZ. Aber auch Teile der Linken entstammten dieser Ursuppe und diese Ursuppe ist eine esoterische.
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Die Sozialreformer des 19. Jahrhunderts waren häufig der Meinung, dass der erhöhte Fleischkonsum eine Fehlentwicklung sei, die zur Not unter den Ärmsten führte. Denn mit dem gleichen Aufwand konnte – und kann bis heute – sehr viel weniger Fleisch als andere Lebensmittel produziert werden. Das heißt die Nahrungsmittel wurden durch die übermäßige Fleischproduktion knapper und teurer. Eine Arbeiterfamilie spare lange auf ein Stück Fleisch anstatt sich günstiger und ebenso nahrhaft vegetarisch zu ernähren, hieß es.
Sozialisten glaubten also schon aus sozio-ökonomischen Gründen an eine vegetarische Lebensweise für die Zukunft. Aber nicht nur diese sozio-ökonomischen Gründe sprachen für die vegetarische Ernährung, auch spirituelle Überzeugungen legten es nahe, auf Fleisch zu verzichten. Neben den Sozialreformern waren es deshalb häufig Vertreter alternativ-religiöser Gruppen, die eine fleischfreie Ernährung propagierten und in vielen Fälle waren sie sowohl das eine als auch das andere, wie etwa der aus der letzten Folge bereits bekannte Evolutionstheoretiker und Sozialist Alfred Russel Wallace.
Zunächst sprach neben den erwähnten ökonomischen Gründen das Mitleid mit den Tieren dafür, auf Fleisch zu verzichten. Im Gegensatz zur kirchlichen Lehrmeinung war man unter alternativ-religiösen Menschen davon überzeugt, dass auch Tiere eine Seele haben.
Zwar war Alfred Russel Wallace in seiner Evolutionstheorie davon ausgegangen, dass die Menschheit eine besondere Gabe zur Vernunft habe, die den Tieren fehle, doch glaubte er auch, dass die Fähigkeit der Vernunft, der göttliche Funke, in allen Lebewesen grundsätzlich angelegt sei. Die Menschheit befinde sich aber auf einer höheren Stufe der spirituellen Evolution. Alle Lebewesen hätten also eine Seele, nur sei die des Menschen weiter entwickelt, als die der Tiere.
Da jeder Besitzer eines Haustieres vermutlich die Überzeugung teilt, dass auch Tiere geistige Wesen sind, die Freude, Angst und Schmerzen kennen, konnten sich Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern in diesem Punkt der esoterischen Denkweise anschließen. Der englische Abenteuerromanschriftsteller Henry Rider Haggard beispielsweise, zu dessen großen Fans unter anderem Winston Churchill zählte, war kein Sozialist und auch kein großer Erforscher der Geisterwelt. Er war politisch konservativ, aber er liebte seine Haustiere.

Durch einen Vorfall im Jahr 1904 kam Haggard zu der festen Überzeugung, dass Tiere wie Menschen, einen den Tod überdauernden Geist haben müssen. Und zwar wurde eines Nachts der Hund seiner Tochter von einem Zug erfasst und starb. In der gleichen Nacht hatte Haggard einen schlimmen Traum, in welchem er mit dem Tod rang. Haggard war überzeugt davon, dass der Traum der Versuch des Hundes gewesen sei, mit ihm telepathisch, also mit Gedankenübertragung, in Kontakt zu treten. Durch ausführliche Nachforschungsarbeiten, unter anderem der Auswertung zahlreicher Zeugenaussagen und eines pathologischen Berichts des Tierarztes, konnte Haggard den Todeszeitpunkt des Hundes ermitteln und stellte fest, dass dieser vor seinem Traum verstorben war. Es müsse also die Seele des bereits toten Hundes gewesen sein, die ihm telepathisch ihre Eindrücke mitgeteilt habe. Haggard hatte zudem das Gefühl, dass der Hund zunächst versucht habe, durch ihn zu sprechen, aber nicht in der Lage gewesen sei, seine, also Haggards, menschliche Zunge zu bedienen. Haggard schickte die Schilderung dieses Vorfalls an die englische Tageszeitung Times, die diese auch in aller Ausführlichkeit abdruckte.
Der Glaube an die Seele der Tiere wurde durch die Evolutionstheorie noch gestützt, sagte diese doch aus, dass Menschen und Tiere nicht essentiell unterschiedlich sind, es also keinen Grund gab anzunehmen, dass die einen eine Seele hätten und die anderen nicht. Wie auch Russel Wallace schaffte Haggard selbst es nicht, vegetarisch zu leben, doch äußerte er die Hoffnung, dass sich der Vegetarismus auf lange Sicht durchsetzen werde. Und gab er nach seiner Erfahrung mit dem toten Hund die Jagd auf.
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Zu den sozio-ökonomische Gründen und dem Mitleid mit den Tieren kam für die Esoteriker ein weiterer Grund hinzu, vegetarisch zu leben. Die spirituelle Evolution hatte sich bereits im 19. Jahrhundert mit Vorstellungen aus indischen Religionen verbunden. Dies lag nahe, denn die Vorstellung vom göttlichen Funken der Vernunft in uns war bereits in Jahrtausende alten hinduistischen Texten zu finden. Der Hinduismus löste ein religiöses Problem, das mit dem Glauben an die Selbsterlösung virulent geworden war. Wenn es das Ziel jedes Lebewesens ist, sich durch Besinnung auf seinen göttlichen Funken selbst zu erlösen, was passiert dann mit all den Menschen und Tieren die das in diesem Leben nicht schaffen und auch nicht schaffen können? Die Lösung lautete, dass der Geist reinkarniert, also wiedergeboren wird und sich seiner geistigen Fähigkeiten von Leben zu Leben immer stärker bewusst wird.
Die spirituelle Evolution stellte man sich nun so vor: Das Leben entwickle sich von einer rein materiellen Existenz als Pflanze über die mehr körperliche als geistige Existenz als Tier und die mehr geistige als körperliche Existenz als Mensch bis hin zur Existenz als rein geistiges Wesen. In jedem Lebewesen stecke dabei der göttliche Funke, der uns lebendig mache. Aber dieser göttliche Anteil befinde sich auf unterschiedlichen Stufen der Verwirklichung, auf unterschiedlichen Reinkarnationsstufen also. Das Ziel des Geistes sei es, auf einer höheren Inkarnationsstufe wiedergeboren zu werden, die weniger materialistisch sein würde. Materialistisch zu sein bedeutete hier auch, auf übermäßigen körperlichen Genuss aus zu sein oder mangelnde emotionale Kontrolle zu besitzen. Ein Alkoholiker galt damit ebenso als Materialist wie ein Choleriker. Ein Materialist habe seine Triebe nicht im Griff und produziere dadurch ein schlechtes Karma. Tiere galten grundsätzlich als triebgesteuert und deshalb auch als materialistischer als Menschen, sie befänden sich auf einer niedrigeren Inkarnationsstufe als der Mensch. Wenn aber ein Mensch ein Tier töte, dann töte er aus einem materialistischen Trieb heraus ein Wesen, das im Kern den gleichen, wenn auch weniger entwickelten, Geist besitze wie er selbst. Das Töten eines Tieres galt deshalb als absolut schädlich für das eigene Karma.
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Die Vorstellung von einer spirituellen Evolution führte dazu, dass Tiere nicht nur nicht getötet, sondern auch nicht verzehrt werden sollten.
Wie bereits erwähnt ist es dieser Vorstellung nach das Ziel der Seele, im Laufe der Evolution den materialistischen Körper zu überwinden und zu einem geistigen Wesen aufzusteigen. Erkenntnis darüber, was der eigene Geist ist, macht diesen Aufstieg möglich. Aber wie gelangt man zu dieser Selbsterkenntnis? Man muss sie empfangen, wie mit einer Antenne. Der Mensch muss eine Verbindung zwischen materieller und geistiger Welt herstellen. Vorbild dafür ist der Tempel. Der Tempel gilt als ein Gebäude, das von Menschen aus Materie, etwa Lehm oder Steinen, gebaut ist, um Kontakt mit dem Geistigen herzustellen und der somit eine Schnittstelle zwischen Gott und der Erde darstellt. Im esoterischen Denken brauchte man keinen Tempel mehr. Jeder habe seinen eigenen Tempel, nämlich seinen Körper. So wurde die Bibelstelle, die besagt, „dein Körper ist ein Tempel“ nun gedeutet. Der Körper muss gepflegt werden, denn er ist der Sitz des Geistes und damit die Schnittstelle zwischen Geist und Materie. So schrieb auch der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner:
„Der Tempel, das ist der Mensch!“ Er war der Ansicht, dass auch die Form der antiken Tempelgebäude eigentlich einen sich zum Göttlichen hin aufrichtenden Menschen darstellten, denn an erster Stelle habe immer der Mensch die göttliche Wahrheit empfangen, das hätten auch die Baumeister der Tempel gewusst.
Was hat das nun mit Vegetarismus zu tun? Nun, damit so ein Tempel gut funktioniert, muss er gehegt und gepflegt werden und vor allem muss er rein sein. Wir alle kennen die Vorschriften für Gotteshäuser. Wer eine Kirche betritt, bemüht sich, nicht zu schreien und zu fluchen. In einer Moschee trägt man keine Schuhe, heilige Orte werden „rein“ gehalten. Das gleiche galt nun für den Körper. Der müsse reingehalten werden, damit der Kontakt zum Geistigen funktioniere. Das bedeutete, dass er sich nicht durch Materie verschmutzen sollte. Wer Fleisch zu sich nehme, der schade seiner geistigen Entwicklung, der mache sich selbst zum Tier. Diätvorschriften gab es deshalb in esoterischen Zeitschriften zuhauf und auch die Anwendung von Darmspülungen und ähnlichem wurde von vielen Gruppen empfohlen. Wer erleuchtet sein wollte, der musste seinen Körper sauber halten. Die Stärkung des Geistes werde aber gleichzeitig auch zu einer Stärkung des Körpers führen, da der Körper nämlich vom Geist abhängig sei. „In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist“. Und zwar nicht, weil Schmerzen den Geist beeinträchtigten, ihn ungesund machten, sondern gerade umgekehrt, weil ein starker Geist erst gar keine Schmerzen mehr habe.
Manche Esoteriker, wie etwa der Schriftsteller Gustav Meyrink, gingen sogar so weit, zu behaupten, ein wahrhaft Erleuchteter brauche gar keine Nahrung mehr, da er seinen materiellen Körper völlig überwunden habe und dadurch mehr Geist als Körper sei. Der tote und widerauferstandene Jesus sei so ein Fall gewesen, glaubte Meyrink. Dies ist natürlich ein extremes Beispiel. Doch damals wie heute ist die Überzeugung, dass Fasten den Geist klärt, auch unter Menschen, die nicht unbedingt ein esoterisches Weltbild vertreten, weit verbreitet. Im Kleinen steht dahinter die gleiche esoterische Idee. In einem reinen Körper steckt ein klarer Geist.
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Das Mitleid mit den Tieren, die Verbesserung des eigenen Karmas und die Reinhaltung des eigenen Körpers für die Erleuchtung, veranlassten esoterisch denkende Menschen zu einer vegetarischen Lebensweise. Esoterische Vereine bauten in den deutschen Großstädten deshalb so genannte Vegetarierheime auf, die auch ihre Versammlungshäuser waren. In diesen ersten vegetarischen Wirtshäusern trafen sich die Sozialisten, Lebensreformer und die Alternativreligiösen der Stadt. In meiner Heimatstadt München befand sich das Vegetarierheim im Univiertel, in der Türkenstraße 24, und damit in der gleichen Straße wie der Treffpunkt der Sozialisten, das Kabarett Simpl, und in unmittelbarer Nähe des Künstlertreffs Café Stefanie, das aufgrund seiner illustren Stammgäste auch Café „Größenwahn“ genannt wurde.
Gäste, die da wie dort verkehrten, waren einer esoterischen Weltsicht oft nicht abgeneigt. Und dies war auch das Viertel, in dem Adolf Hitler seine Tage als erfolgloser Maler zubrachte.

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Mit der vegetarischen Ernährung alleine war es häufig nicht getan. Nahrungsmittel sollten auch auf einen bestimmte Weise produziert werden.
Diejenigen, die es noch nicht geschafft hatten, sich das Essen völlig abzugewöhnen, sollten sich auf möglichst „natürliche“ Nahrungsmittel besinnen, vor allem auf solche, die nicht „materialistisch“ waren, sondern vom Geist durchdrungen, also lebendig, oder um es griechisch auszudrücken, die „biologisch“ waren. Als geistlose Materie galten nicht nur tote Tiere, sondern vor allem auch alles übermäßig verarbeitete oder künstliche, wie künstlicher Dünger, der den Boden tot mache, so dass dieser eben nicht mehr „biologisch“ sei. Im esoterischen Weltbild steckte der Geist in jedem Lebewesen der Natur. Aber wo der Geist verschwunden war, da herrschte nur noch Materie, da war die unterste Stufe der Evolution erreicht. Diese zu sich zu nehmen und seinen Körpertempel damit zu verschmutzen, verringerte natürlich die Chance auf Erleuchtung enorm.
Die Esoteriker beschäftigten sich deshalb nicht nur mit der Zubereitung von Speisen, sondern auch mit der Nahrungsmittelproduktion und dem Landbau. Besonders erfolgreich war dabei die Anthroposophie mit ihrer bio-dynamischen Landwirtschaft, wie sie auch heute noch unter dem Demeter-Siegel betrieben wird. Unter den Nationalsozialisten wurde die Anthroposophische Gesellschaft zwar aufgelöst, doch die bio-dynamische Landwirtschaft wurde in Nazideutschland gefördert, etwa durch den Reichsverband für Bio-dynamische Wirtschaftsweise. Dies lag zum Teil an der Sympathie einiger führender Nazifunktionäre für die „natürliche“ Ernährung und für das esoterische Weltbild, auf die ich in einer anderen Folge eingehen werde. Die Biodynamik und die vegetarische Lebensweise versprachen aber zudem, das Land unabhängig zu machen von Futtermittel- und Ölimporten aus dem Ausland, die man für Fleischproduktion und Kunstdünger benötigte. Vegetarismus und biodynamischer Landbau eigneten sich bestens als Kriegswirtschaft. Vor allem die günstig zu produzierende Quarkkartoffel wurde nun als gesundes Lebensmittel propagiert.
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Der Zusammenhang von Esoterik, Sozialreformern und Ernährung lässt sich in Deutschland noch an der Existenz der sogenannten Reformhäuser ablesen. Läden in denen Produkte, vor allem Lebensmittel, verkauft werden, die die soziale und spirituelle Evolution voranbringen sollen. Obwohl in meiner Kindheit weit verbreitet, werden sie heute immer öfter von den großen Biomarktketten vertrieben, wie etwa dem anthroposophisch geprägten Bio-riesen Alnatura.
Spätestens mit der Abholzung des Regenwalds für die Sojafuttermittel- und Palmölproduktion, seit dem zunehmenden Flugverkehr durch Transporte und dem Klimawandel, ist die bio-dynamische Landwirtschaft aber auch für Linke wieder von großer Bedeutung. Tatsächlich ist die industriell bearbeitete Erde ja auch irgendwann tot und die Folgen der industriellen Landwirtschaft tragen häufig die Ärmsten dieser Welt.
Bioläden und vegetarische Restaurants sind damit zu gesellschaftlichen Schnittstellen geworden zwischen Linken und Rechten, zwischen Esoterikern, die auf die Reinhaltung ihres Körpers für die Erleuchtung bedacht sind und Menschen, die den Klimawandel aufhalten wollen. Im Frühjahr wurden sie damit auch zum Treffpunkt der Hygiene-Demonstranten.
Nicht nur die Ernährung stellt aber solch eine Schnittstelle zwischen Esoterikern und Menschen aus verschiedenen politischen Lagern dar. Gleiches gilt für die Impfgegner. Aber mehr dazu erfahren Sie in der nächsten Folge.
Quellen
Corinna Treitel. Eating Nature in Modern Germany. Food, Agriculture and environment, c.1870-2000.
Henry Rider Haggard. Telepathy (?) Between a Human Being and a Dog. Times, July 31, 1904, S. 6.
Helena Blavatsky. Have Animals Souls. Theosophist 7 (Nr.76-Nr.78), 1886. Online zugänglich auf https://www.blavatsky.net/index.php/have-animals-souls.
Rudolf Steiner. Der Ursprung der Architektur aus dem Seelischen des Menschen und ihr Zusammenhang mit dem Gang der Menschheitsentwicklung. Erster Vortrag, Berlin, 12. Dezember 1911. In: Rudolf Steiner Vorträge über die Kunst. Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1982.
Akten der Polizeidirektion München im Bayerischen Hauptstaatsarchiv.