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Die Querdenker werden derzeit von viele Menschen hauptsächlich mit rechts in Verbindung gebracht, doch Anfang Dezember schrieb das Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass unter den Querdenkern neben Wählern der AfD vor allem Wähler der Grünen und Linken zu finden seien. Die Querdenken-Bewegung komme „eher von links“ bewege sich aber „stärker nach rechts“. Sie sei dabei „enorm widersprüchlich“. Wie lässt sich das erklären?
Natürlich gilt, dass es vielfältige individuelle Gründe und Motivationen gibt, warum Menschen sich Protesten gegen die Corona-Maßnahmen anschließen. Doch Linke wie Rechtsextremisten haben gemeinsame Wurzeln in der Esoterik, die dazu führen können, Krankheiten als ein Problem des Geistes oder der Seele zu betrachten und den Corona-Maßnahmen deshalb grundsätzlich kritisch gegenüberzustehen.
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Aber stellen wir die Frage nach den esoterischen Wurzeln der linken Sozialreformer zunächst noch einen kleinen Moment zurück und die nach den esoterischen Wurzeln der Rechtsextremisten sogar noch ein paar Folgen. Damit Sie verstehen, wie das esoterische Denken, das den Geist höher bewertet als den Körper, so unterschiedliche Gruppen wie Linke, Rechte, Vegetarierverbände, Impfgegner und indische Gurus zusammenbringt, muss ich am Anfang anfangen. Ganz am Anfang. Nein, nicht bei Adam und Eva, – wir befinden uns ja nicht mehr im Mittelalter. – sondern bei der Evolution; und zwar der „spirituellen Evolution“.
Am besten lässt sich diese „spirituelle Evolution“ anhand der Geschichte der Evolutionstheorie erklären, so wie wir sie heute alle in der Schule lernen. Oder eben nicht ganz so, wie wir sie in der Schule lernen.
Die meisten Menschen verbinden die Evolutionstheorie vermutlich mit Charles Darwins Buch die „Entstehung der Arten“. Aber Darwin präsentierte seine Theorie 1858 gemeinsam mit einem anderen Wissenschaftler namens Alfred Russel Wallace. Russel Wallace und Darwin waren nämlich exakt zum gleichen Zeitpunkt zur selben Einsicht über die Entstehung der Arten gelangt. Russel Wallace, der den damals schon berühmten Naturforscher sehr bewunderte, hatte Darwin seine Aufzeichnungen zugeschickt. Darwin war sehr beeindruckt von dem Autodidakten Wallace und lud ihn daraufhin ein, ihre beiden Vorträge zum Thema in London gemeinsam zu halten, was dann auch geschah. Zu Beginn hieß die Theorie von der Entstehung der Arten deshalb Darwin-Wallace-Theorie. Wie kam es dann aber dazu, dass Wallace fast völlig in Vergessenheit geraten ist, während Darwin sich zum Sinnbild eines wissenschaftlichen Weltbilds gemausert hat?
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Zwei Gründe gibt es dafür. Erstens, hatte Russel Wallace weniger Prestige, denn im Gegensatz zu Darwin entstammte er nicht der Oberschicht, sondern einer verarmten Beamtenfamilie. Und zweitens, maß Russel Wallace dem Geist eine größere Bedeutung bei als Darwin. Er war Spiritist, das heißt, er glaubte nicht nur an die Kraft des Geistes, sondern auch an Geister und das Übersinnliche.

War Russel Wallace also ein abergläubischer Spinner, der im Gegensatz zu Darwin mit mehr Glück als Verstand die gleiche Theorie formuliert hatte?
Absolut nicht. Russel Wallace war ein moderner Mensch und ein moderner Denker. Vermutlich moderner als Darwin selbst. Russel Wallace war Sozialist, er setzte sich für das Wahlrecht der Frauen ein, er war ein engagierter Antirassist und er machte sich bereits im Jahr 1907 Gedanken darüber, ob der Mars nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit bewohnbar sein könnte. Nebenbei nahm er aber auch an Geisterbeschwörungen teil. Sein wissenschaftlich geprägtes Weltbild stand dem in keiner Weise entgegen.
Allerdings unterschieden sich Darwins und Russel Wallace‘ Evolutionstheorien auch in zwei Punkten: Zum einen lehnte Alfred Russel Wallace im Gegensatz zu Charles Darwin das Prinzip des „Survival of the fittest“, also das Überleben des Stärkeren als Haupttriebfeder der Evolution ab. Er hielt den Überlebenskampf durch Konkurrenz lediglich für eine Phase der Evolution. Das übergeordnete leitende Prinzip aber, welches das Überleben sichere und damit dazu führe, dass eine Spezies sich fortpflanzen könne, sei, so Russel Wallace, ihre Fähigkeit zur Kooperation. Das bedeutete, dass nicht einfach der Stärkste am überlebensfähigsten ist, sondern die Kooperativsten, die sich zusammenschließen und damit die besonderen Fähigkeiten jedes Einzelnen optimal nutzen können. Denn nicht jeder kann ja alles gleich gut. So ist vielleicht einer ein guter Jäger, aber eine andere macht besonders gute Jagdmesser. Eine gute Schmiedin und ein guter Jäger können gemeinsam die Stärken beider nutzen und verschwenden ihre Zeit nicht mit Dingen, die sie eben nicht so gut können. Die Schmiedin braucht aber wiederum Eisenerz, für das vielleicht ein Dritter oder eine Dritte ein besonderes Gespür hat und so weiter und so fort. Dieses Prinzip der Kooperation schien insbesondere für die Evolution des Menschen zu gelten. Russel Wallace war deshalb der Ansicht, dass sich die Menschen unter anderen Bedingungen entwickelt haben müssen als die Tiere.
Und da lag auch der zweite große Unterschied zwischen Darwins und Russel Wallace‘ Theorie. Um zu erklären, wie Wallace zu der Überzeugung kam, dass Menschen sich grundsätzlich von den Tieren unterscheiden, muss ich allerdings nochmal ein wenig ausholen:
Russel Wallace stammte aus armen Verhältnissen, deshalb waren seine Forschungsreisen im Indischen Ozean eher mit heutigem Backpacking vergleichbar. Während Darwin relativ bequem als Gentleman und Gast des Kapitäns auf dem Meer unterwegs war, lebte Russel Wallace manchmal lange Zeit unter Eingeborenen, bis sich erneut ein Schiff bereit erklärte, ihn mitzunehmen. Aus seinen Erfahrungen mit den Ureinwohnern kam er zu der Überzeugung, dass die Menschen, anders als die Tiere, alle über eine gleiche Eigenschaft verfügen, egal, ob sie ihnen in ihren Lebensumständen nützlich war oder nicht. Diese Eigenschaft war die Vernunft. Obwohl zum Beispiel abstrakte Mathematik für die Eingeborenen einer Insel im Indischen Ozean oft keinen praktischen Nutzen für ihr alltägliches Überleben hatte, waren sie in der Lage, Mathematik zu verstehen, wenn man sie ihnen erklärte. Die Vernunft konnte also nach Russel Wallace‘ Meinung nicht durch die Anpassung an den Lebensraum entstanden sein. Er schloss daraus, dass es ein leitendes Prinzip geben müsse, nach dem sich die Menschheit entwickelt habe. Etwa wie bei der Viehzucht, bei der ja bestimmte Eigenschaften in den Tieren gefördert werden, auch wenn diese für sie selbst erstmal nicht nützlich sind. In diesem leitenden Prinzip sah Wallace den göttlichen Funken des Neoplatonismus, der den Menschen zur Selbsterlösung befähigt. Als er diese Ansicht publizierte, schrieb Darwin, er hoffe, dass Russel Wallace ihr gemeinsames Kind – gemeint war die Evolutionstheorie – mit seiner neuen Veröffentlichung nicht allzu gründlich getötet habe.
Das hatte er nicht, aber seinen eigenen Ruhm hatte er wohl im Keim erstickt. Dennoch war Russel Wallace einer der Sargträger auf Darwins Beerdigung und er verdankte Darwin sein jährliches Einkommen von 200 Pfund. Darwin hatte sich dafür eingesetzt, dass Russel Wallace, der mit seiner schrägen Genialität nie ein Vermögen gemacht hatte, vom Staat finanzielle Unterstützung erhielt.
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Russel Wallace‘ Version der Evolutionstheorie zeichnete sich also dadurch aus, dass sie ein geistiges Prinzip ins Zentrum stellte, dass die Menschen miteinander verband, egal welche Hautfarbe oder welches Geschlecht sie hatten. Ihre Vernunft, ihr Geist mache alle Menschen gleich. Dieser Geist stelle die Menschheit, unabhängig von den körperlichen Merkmalen des Einzelnen, auf eine gemeinsame Stufe der Evolution. Im Gegensatz zum Evolutionsprinzip vom „Survival of the fittest“, dem „Überleben des Stärksten“, das hauptsächlich auf körperliche Merkmale fokussiert war, glaubte Russel Wallace, dass es ein geistiges kein körperliches Prinzip sei, das die menschliche Evolution vorantrieb. Die Evolution des Menschen schien sich von dessen Körper auf dessen Geist oder dessen Seele verlagert zu haben, denn Kooperation hat eben nichts mit körperlicher, sondern mit geistiger Stärke zu tun. Aus diesem Gedanken entstand die Vorstellung von einer spirituellen Evolution, die nicht den Körper, sondern den Geist und die seelische Entwicklung des Menschen betrifft. Den göttlichen Funken in ihm, wie es in der neoplatonischen Tradition heißt.
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Die Vorstellung von der spirituellen Evolution war es schließlich, die die Esoterik mit dem Sozialismus verband. Sie war ein starker Motor für die Sozialreformen des 19. Jahrhunderts. Menschen, die an die Existenz dieses göttlichen Funken glaubten, engagierten sich häufig auch für die Rechte der Armen, der Frauen, der Kolonialisierten, der Versklavten. Der Geist, also die menschliche Seele, so sagten sie, besäße weder Nationalität, noch Geschlecht, noch Hautfarbe, Geist zähle mehr als der Körper. „Mind over matter“ wie es als Schlagwort im Englischen heißt.
Allerdings war die Position dieser esoterisch argumentierenden Sozialreformer ein wenig paradox. Denn einerseits sahen sie im Fortschritt der Wissenschaft den Beleg für die spirituelle Evolution des Menschen. Andererseits aber standen sie vielen Entwicklungen der Moderne durchaus kritisch gegenüber und zwar ebenfalls mit dem Verweis darauf, dass der Mensch ein geistiges Wesen sei. Viele Sozialisten argumentierten, dass Wissenschaft nicht nur Fortschritt mit sich bringe, sondern zudem auch großen seelischen Schaden in der Arbeiterschicht anrichten würde, weil dort allein der Materialismus zähle. Unter Materialismus verstand man dabei nicht nur Geldgier, sondern eine Einstellung, bei der der Geist, die Seele des Menschen, vernachlässigt werde. Durch die Industrialisierung würden Menschen wie Maschinen betrachtet, die ihre Arbeit zu verrichten hätten. Man verweigere ihnen aber seelische Nahrung und verhindere damit ihre geistig evolutionäre Weiterentwicklung. Der Materialismus schwäche die Entwicklung der Menschheit, hieß es. Das System müsse deshalb zum Wohle aller radikal in eines der brüderlichen Ko-operation und Ko-ordination umgewandelt werden. Arbeiterverbände gründeten deshalb Bildungsvereine, um den Arbeitern geistige Nahrung zukommen zu lassen. Auch Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, begann seine Karriere als Redner in einem solchen Arbeiterverein.
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Viele Menschen auf den Querdenkerdemonstrationen zweifeln an der Schwere der Pandemie. Esoterisch denkende Linke werden dazu neigen, sich dieser Einschätzung anzuschließen. Und nicht nur sie. Das gleiche gilt für die Gruppe der Impfgegner und auch einige Vegetarier.
Aber wie das alles zusammenpasst erfahren Sie in den nächsten Folgen.
Quellen
Andrew Berry. Evolution’s red-hot radical. Nature 496, 162–164 (2013). Online zugänglich auf: https://www.nature.com/articles/496162a#citeas.
Peter Raby. Alfred Russel Wallace. A Life. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 2001.