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Erinnern Sie sich noch daran, als eine Heilpraktikerin im Sommer 2020 bei der großen Querdenkerdemo in Berlin zum Sturm auf das Reichstagsgebäude aufrief? An das Erstaunen in der Presse über die seltsame Zusammensetzung der Protestierenden?
Über die Querdenker wird weiterhin viel geredet und viel geschrieben. Viele fragen sich, was das für eine Bewegung ist, die da an der Spitze der Kritik an der Corona-Politik steht und warum sich ihr im letzten Jahr Menschen anschlossen haben, die man früher nie zusammen in einen Topf geworfen hätte. Linke, Rechtsextreme, Heilpraktiker, Impfgegner und Gurus, sie alle waren im August gemeinsam auf dem Platz der Republik in Berlin versammelt.
Als Religionshistorikerin würde ich sagen, dass es nicht zufällig ist, dass sich gerade diese Gruppen zusammengefunden haben, um gegen den Umgang mit einer Krankheit zu protestieren. Kritik und Diskussionen gibt es ja von vielen Seiten, aber gerade die Querdenker stehen für eine bestimmte Ausrichtung dieser Kritik. Häufig wird die Nähe zu Verschwörungstheorien erwähnt, die Skepsis gegenüber der Wissenschaft und die feindliche Einstellung gegenüber dem eigenen Staat. Es scheint oft weniger um Kritik an konkreten Maßnahmen zu gehen und mehr um grundsätzliche Fragen des Welt- und Menschenbildes. Und an so einem Menschenbild hängt eben immer auch die Frage, was eine Krankheit denn eigentlich ist und was man gegen sie unternehmen sollte.
Die Frage nach dem Menschenbild ist kompliziert und rührt an den Kernthemen der Philosophie. Aber ganz simpel ausgedrückt, vertreten die meisten Menschen in Europa vermutlich eine Mischung aus zwei gegensätzlichen Vorstellungen davon, was der Mensch ist: Eine, in der der Mensch als Lebewesen in Konkurrenz mit anderen Lebewesen steht und sein Überleben sichern muss, indem er seinen Körper durch Manipulation der Natur gegen Angriffe schützt. Und ein anderes Menschenbild, das den Menschen weniger über seinen Körper und mehr über seinen Geist begreift; das davon ausgeht, dass nicht nur die Natur, sondern auch geistige Zustände wie Glück und Zufriedenheit Auswirkungen auf unseren Körper haben.
Diese beiden Menschenbilder werden besonders dann deutlich, wenn wir über Krankheiten nachdenken. Dazu zwei Beispiele:
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Erstes Beispiel:
Es ist Winter, das Wetter ist nass und kalt. Ich ziehe mich also warm an und entschließe mich, die U-Bahn zum Büro zu nehmen. Natürlich ist die völlig überfüllt, weil alle auf den gleichen Gedanken gekommen sind. Die Hälfte der Leute in der U-Bahn hat Schnupfen und schnieft schweigend vor sich hin. Im Büro dann sitzt mein Kollege beständig hustend am Schreibtisch.
Ein paar Tage später läuft auch mir die Nase, ich habe Kopfschmerzen: eine Erkältung. Kein Wunder! Die wird immer schlimmer, Halsschmerzen kommen hinzu, eine bakterielle Infektion, sagt der Arzt und verschreibt ein Antibiotikum. Nach ein paar Tagen geht es wieder besser. Die Krankheit ist überstanden.
Ich bin also davon ausgegangen, dass die Krankheit eine natürliche Sache ist, gegen die ich mich wehren muss, indem ich meinen Körper schütze. Zum Beispiel, indem ich mir eine Mütze aufsetzte und nicht zu lange in der Kälte rumstehe. Ich werde dann aber doch krank, weil ich von zu vielen Angreifern, also Krankheitserregern, umgeben bin und als ich sie nicht mehr loswerde, nehme ich Medikamente, die die Bakterien zerstören sollen. Aber manchmal schätzt man eine Krankheit auch ganz anders ein.
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Zweites Beispiel:
Die Arbeit ist der pure Stress. Der Chef ist der Horrer. Alles fühlt sich nach Hamsterrad an. Ich kann nicht mehr und will nicht mehr. Nach Monaten des Ärgers habe ich schon Bauchmerzen, wenn ich nur an meine Arbeit denke. Und die werden immer schlimmer: Ein Magengeschwür, sagt der Arzt und empfiehlt aufgrund meines desolaten Zustands zudem, einen Psychologen zu Rate zu ziehen. Der stellt ein Burnout-Syndrom fest. Ich werde krankgeschrieben und kündige. Ich lerne die Arbeit mit mehr Gelassenheit zu sehen und die Welt wieder positiver zu betrachten. Auch das Magengeschwür verschwindet langsam.
Hier scheint also nicht der Körper das primäre Problem zu sein, sondern der erschöpfte Geist. Erst als es psychisch wieder besser geht, zieht auch der Körper nach und erholt sich.
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Während im ersten Beispiel der Körper das letzte Wort über den Zustand eines Menschen hat, ist es im zweiten Beispiel der Geist, der darüber bestimmt, wie es uns geht.
Auch wenn viele Menschen beide Vorstellungen vertreten, (mal so… mal so) sprechen viele der ersten Vorstellung mehr wissenschaftliche Legitimität zu. Aber eigentlich ist die Vorstellung, dass unser Geist für den Zustand unseres Körpers verantwortlich ist, nicht weniger logisch als die umgekehrte. Schließlich lenkt unser Geist unseren Körper ständig, wir geben ihm andauernd Befehle: Zieh dich warm an, steig in die U-Bahn, geh in die Arbeit, geh zum Arzt.
Die Frage, wer es eigentlich ist, der oder die unserem Körper Befehle gibt, was also das „Ich“ ist, ist eine der ältesten philosophischen Fragen überhaupt.
Dabei gehst es auch um die Frage, warum das „Ich“ diese Macht hat, dem Körper Befehle zu erteilen. Manche sagen, die hat das „Ich“ gar nicht. Es ist immer der Körper der bestimmt und unser Gefühl, dass wir den Körper mit unserem Willen lenken können, ist reine Einbildung. Wir können also gar nichts entscheiden. Unser Schicksal ist vorherbestimmt. Das scheint keine sehr attraktive Lösung für das Problem zu sein. Viele Menschen, die sich über das Verhältnis zwischen Körper und Geist Gedanken gemacht haben, haben sich deshalb auf eine philosophische Tradition bezogen, die den Geist oder die Seele als eine göttliche Kraft im Menschen ansieht. Der Geist hat damit auch Eigenschaften, die traditionell Gott zugesprochen wurden. Er gilt zum Beispiel als unsterblich und nicht an Naturgesetze gebunden, deshalb könne er auch die Materie, wie etwa den eigenen Körper, lenken. Dieses göttliche „Ich“ ist völlig frei. Aber leider, so heißt es dieser Tradition nach, ist es einem Irrtum aufgesessen und denkt, es wäre an die Natur und den Körper gebunden. Wenn der Geist, das „Ich“, aber nur realisiere, dass es stärker ist als der Körper und die Natur, dann könne ihm nichts mehr etwas anhaben. Die Aufgabe des Menschen auf der Welt sei es, das zu begreifen. Diese philosophische Tradition nennt man in Europa Neoplatonismus, weil sie vor allem in einer bestimmten Rezeptionslinie der Texte des antiken Philosophen Platon zu finden ist, aber im Hinduismus und Buddhismus kam man zu ganz ähnlichen Überlegungen. In der christlichen Tradition jedoch galt die Vorstellung vom göttlichen Funken in jedem Menschen lange Zeit als ketzerisch. Die Idee, dass der Mensch selbst ein Teil von Gott ist und sich damit auch selbst vom Unglück der Welt befreien, also erlösen kann, stand der christlichen Gnadenlehre, die Christus als den Erlöser des Menschen betrachtet, diametral entgegen. Der Neoplatonismus fristete deshalb ein Schattendasein als „geheimes“ Wissen. Mit der Aufklärung und den Fortschritten in der Forschung, die viele Erleichterungen für das Leben mit sich brachten und die Lebenserwartung der Menschen erheblich verlängerten, war die Idee, dass sich der Mensch selbst erlösen könne, auf einmal wieder auf große Resonanz gestoßen. Die Esoterik stellt den Versuch dar, den Glauben an eine Seele und die Erlösung von allem Leid mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Das tut die Esoterik, indem sie von der Fähigkeit des menschlichen Geistes zur Selbsterlösung ausgeht.
Esoteriker neigen deshalb dazu, Krankheit eher als ein Problem zu sehen, das nicht auf körperlicher, sondern auf geistiger Ebene bekämpft werden muss. Unter anderem gilt dies für die Anthroposophische Gesellschaft, die vermutlich die wichtigste esoterische Gruppe in Deutschland ist. Obwohl vielleicht nicht jeder von der Anthroposophischen Gesellschaft gehört hat, kennen die meisten Menschen in Deutschland doch die Waldorfschulen und die Demeterprodukte, die mittlerweile in zahlreichen Supermärkten zu finden sind, vielleicht auch die Pflegeprodukte der Firma Weleda. Sie alle unterstehen der Anthroposophischen Gesellschaft. Und auch die DM-Drogeriemärkte und die Alnatura Supermärkte sind anthroposophisch geprägt. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde 1912 von Rudolf Steiner ins Leben gerufen. Nach Steiners Lehre entsteht eine Krankheit erst durch die Angst vor ihr. Der eigene Geist produziere eine Krankheit selbst und zwar durch den Glauben an ihre Existenz, heißt es bei Steiner. Habe ein Mensch aber einmal begriffen, dass der Geist stärker ist als der Körper, gebe es auch keine Krankheit mehr. Mit dieser Vorstellung stand Rudolf Steiner nicht alleine da. Seit dem späten 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Geistheiler, die ebenso argumentierten.

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Auf die derzeitige Situation bezogen bedeutet das: Die Bilder der Toten von Bergamo und von Menschen mit Beatmungsgeräten, die im Frühjahr 2020 im Fernsehen gezeigt wurden und die die Bevölkerung warnen und von den Schutzmaßnahmen überzeugen sollten, wären , wenn man Steiners Ansicht folgt, geradezu gefährlich, da sie erst zur erhöhten Ansteckung führen würden. Panik ist dieser Vorstellung nach die eigentliche Krankheit.
Natürlich vertritt nicht jeder Anthroposoph oder Heilpraktiker diese Ansicht in dieser Radikalität – auf der anderen Seite empfiehlt auch die Schulmedizin bei manchen Leiden die Unterstützung eines Psychologen oder Seelsorgers. In unserem Alltag ist eine eindeutige Linie zur Frage, was stärker ist, der Geist oder der Körper, häufig gar nicht nötig. Durch Corona ist diese metaphysische Frage aber plötzlich zu einer akuten und alle Menschen betreffenden politischen Frage geworden.
Stark esoterisch ausgerichtete Menschen werden eher dazu neigen, die physische Gefahr des Virus nicht ernst zu nehmen und in Corona eine Gefahr für den Geist und die Freiheit ihres „Ichs“ zu sehen. Dabei handelt es sich keinesfalls nur um Menschen, die klassischerweise als „alternativ“ bezeichnet werden. Schon in den zwanziger Jahren wurden zum Beispiel Anthroposophen auf Karikaturen als perlenkettentragende Frauen dargestellt, ähnlich dem verbreiteten Klischee der Biomarktkundin heute.

Viele der Gruppen, die sich im Sommer 2020 auf den Querdenker-Demos zusammenfanden wurden von der Vorstellung beeinflusst, dass das was einen Menschen ausmacht nicht sein Körper ist, sondern sein Geist. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert haben Linke, Impfgegner, Vegetarier, Gurus, Rechtsextreme und in jüngster Zeit auch Verschwörungstheoretiker immer wieder Bezug auf diese Vorstellung genommen. Sie ist ein kleinster gemeinsamer Nenner, der diese Milieus mit der Geschichte der Esoterik zusammenschweißt. Wie genau sie alle zusammengehören, das werden die einzelnen Folgen der Querdenker FAQ erklären.
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Als Historikerin bin ich es gewohnt, dass Zusammenhänge komplex sind. Aber zumindest bewegt sich mein Forschungsgegenstand für gewöhnlich nicht mehr. Der Protest der Corona-Kritiker aber ist in ständigem Wandel und auch die Einschätzung durch die Öffentlichkeit ändert sich fast täglich. Über Linke und Bioläden hört man derzeit nicht mehr viel, dafür ist ein Rechtsruck durch die Demonstranten gegangen. Der historische Zusammenhang zwischen den in dieser Reihe beschriebenen Einstellungen bleibt bestehen, wohin sie sich aber in Hinblick auf die Pandemie entwickeln, das muss die Zukunft zeigen.
Welcher historische Brückenschlag aber zwischen Linken, Esoterikern und Querdenkern gemacht werden kann, dass erklärt bereits die nächste Folge.
Quellen:
Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth und Markus Meumann (Hrsg.). Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne. Berlin/ Boston: De Gruyter, 2013
Bildquelle:
Simplicissimus, 1924 (Jg.29) Heft 30, 411. Online zugänglich auf www.simplicissimus.info, ein Projekt der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Klassik Stiftung Weimar.